"Ich wusste, dass ich ihm das nicht erzählen sollte."
Lenny hat Roux besucht – in dieser Bonusszene kannst du den Besuch bei Roux aus ihrer Sicht erleben.
Wenn du Begegnung in Red Oak Mountain noch nicht kennst, besteht Spoilergefahr.
LENNY
»Nate?«
Ich trat zu ihm in die Küche.
»Hey.« Er drehte sich zu mir um, deutete auf das Essen. »Willst du was abhaben?«
»Nein.« Ich schob mich rückwärts auf die Arbeitsplatte und sah ihm dabei zu, wie er Pfeffer und Salz über die Eier gab, ehe er sie aus der Pfanne hob.
Ich zog die Schublade neben ihm auf und reichte ihm eine Gabel.
»Kann ich dich was fragen?«, fragte ich, als er sich mit dem Teller neben mich gestellt hatte.
Er aß gerne im Stehen – das hatte ich mittlerweile schon herausgefunden.
Er bedeutete mir mit einem Nicken, dass es okay war.
»Kannst du mich zu Roux fahren? Ich weiß nicht, wo er genau wohnt und ich will ihn besuchen.«
»Und du willst deine Schwester nicht fragen, weil …?«
»Sie es nicht wollen würde«, sagte ich mit gedämpfter Stimme. »Es ist kompliziert.«
»Das habe ich schon mitbekommen«, seufzte er, ehe er sagte: »Ich fahr dich hin. Ist kein Problem. Wann willst du hin?«
»Jetzt sofort? Solange Robin noch arbeitet, bekommt sie nicht mit, das ich weg bin. Und wenn sie es merkt, kann sie nichts mehr dagegen tun.
Nathan lachte leise. »Ich wusste doch, alle Teenager sind rebellisch.«
Ich zuckte bloß die Schultern. War es wirklich so rebellisch seinen Bruder kennenlernen zu wollen?
»Aber schreib Emmett und Trish einen Zettel. Nicht, dass sie dich überall suchen, okay?«
»Klar. Ich schreib ihnen, du bringst mich in die Bücherei.«
»Wir haben wirklich eine.«
»Echt?« Da musste ich unbedingt hin. »Da musst du mich auch noch mal hinbringen. Wenn ich …ein bisschen anders aussehe.«
»Werde ich.«
Er stopfte sich den Rest der Spiegeleier in den Mund, stellte den Teller in die Spüle und fragte: »Wollen wir?«
Ich holte meinen Rucksack aus dem Wohnzimmer. Dann nahm ich mir einen Zettel aus dem Regal, schrieb eine kurze Nachricht, die ich auf dem Wohnzimmertisch platzierte und folgte Nathan in den Flur, wo ich meinen Mantel vom Harken nahm.
Draußen atmete ich tief ein, saugte ich die Luft in meine Lungen.
Seit mehr als einer Woche war ich nicht mehr draußen gewesen.
Nathans Wagen stand nicht weit entfernt, in einer Haltebucht an der Straße. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz, legte den Gurt an und saugte alles in mir alles ein.
Die Straßen waren kleiner als in Chicago oder Dallas. Alles wirkte schöner.
»Wie lange kennen Roux und du euch schon?«
»Seit er zu seinem Onkel gezogen ist«, erklärt er, ohne den Blick von der Straße abzuwenden. »Wir sind zusammen in die erste Klasse gekommen.«
»Wo hat er denn vorher gewohnt?«
»Auf einer Farm im Umland.«
Mit Ronald.
»Und warum ist er in die Stadt gezogen?«
Nathan warf mir einen kurzen Blick zu. »Ich glaube, das solltest du ihn lieber selbst fragen, Lenny.«
»Ist er verheiratet?«
Nathan lachte leise. »Nein. Roux hält es lieber unabhängig. Zumindest war das so, bis er deine Schwester getroffen hat.«
»Oh.«
»Du wusstest es nicht, das die beiden …?«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie sind zusammen? So richtig?«
»Sie mögen sich. Ich glaube, dass da viel mehr zwischen ihnen ist, als sie sich eingestehen wollen. Er zumindest ist verrückt nach ihr. Ich glaube, es ist das erste Mal, dass ich ihn mit jemanden glücklich gesehen habe.«
Warum hatte Robin mir das nicht erzählt? Das änderte doch alles – oder nicht?
»Eigentlich wohnt Roux dadrüben«, erklärte Nathan, als wir vor einer Wohnungstür standen. »Aber er ist oft bei Jenna, Liv und der Kleinen.«
Der Kleinen? »Hat er ein Kind?«
»Liv hat eine kleine Tochter. Mayla. Roux kümmert sich viel um sie. Er ist eine Art Ersatzpapa für sie.«
Meine Brust wurde eng. Er kümmerte sich um ein Kind. So, wie Rob sich um mich gekümmert hatte. Er konnte kein schlechter Mensch sein, wenn er sich um das Kind einer Anderen kümmerte. Oder doch?
»Lenny?« Nathan musterte mich. »Alles okay?«
Gerade als ich nickte, öffnete sich die Tür und eine junge blonde Frau öffnete uns. Sie trug einen schmalen Kreuzanhänger um den Hals.
»Oh Nate«, begrüßte sie ihn. Dann fiel ihr Blick auf mich. Sie sah mich an, so wie Roux mich angesehen hatte, so wie Emmett und Trish und auch Nathan. Es war die gewohnte Mischung aus Schock und Schmerz, denn obwohl meine Wunden mittlerweile verheilter waren, sah man mir noch immer an, was passiert war.
Ich streckte die unverletzte Hand aus. »Hi«, sagte ich. »Ich bin Lenny.«
»Jenna.«
»Wir wollten Roux besuchen. Ist er hier?«
Jenna nickte. »Sie verwüsten gerade die Küche. Kommt rein.«
Nacheinander traten wir ein.
Irgendwo lief Musik. Ich hörte das Quietschen eines Kindes, dicht gefolgt von Roux Lachen und dem Schlagen von Töpfen. Kurz darauf konnte ich die Küche sehen. Das Mehl, das überall auf dem Boden verteilt war. Die Töpfe. Das kleine Mädchen, das an Roux Händen durch das Chaos hüpfte.
»Wieso hat er so gute Laune?«
Jenna senkte die Stimme: »Robin war wohl gestern Abend bei ihm. Ich glaube, das hat ihm gut getan.«
Ich hätte zu gerne gefragt, was sie meinte.
»Ich kann euch hören, Leute.« Er hob das Mädchen hoch und drehte sich zu uns um.
Im nächsten Moment fiel Roux Blick auf mich. Vor Überraschung weiteten sich seine Augen.
»Lenny.«
Er lehnte sich zurück und drehte die Musik leiser, ehe er lächelte. Er lächelte mich an. Mich.
»Hey«, sagte ich und hob die Hand. Plötzlich wusste ich nicht mehr, ob es richtig gewesen war, herzukommen.
»May und ich machen gerade Frühstück. Du kannst mir helfen, wenn du willst.« Er winkte mich heran.
Ich zögerte, doch dann stellte ich den Rucksack am Türrahmen ab und ging auf ihn zu.
Eine Eierpackung landete vor mir. »Du kannst die Eier reinrun«, erklärte er, ehe er sich zu mir hinüber beugte und flüsterte. »Sechs Stück.« Dann zwinkerte er mir zu und legte den Finger auf seine Lippen.
»Wie jetzt, du bringst ihr bei, wie man Rouxies macht?«, frage Nathan hinter uns.
»Klar. Kann man doch gar nicht früh genug mit anfangen, oder?«
»Weil du uns allen ja auch verrätst, wie man das macht.«
»Das, mein lieber Freund, ist ein Familiengeheimnis, das nur an ausgewählt Leute geht.«
Familiengeheimnis. Meine Finger erstarrten und das Ei, das ich eben noch angeschlagen hatte, landete auf dem Boden.
»Und nur so nebenbei, ich habe es dir mal verraten. Ich kann nichts dafür, dass du zu betrunken warst, um es dir zu merken.«
Ich starrte auf das Ei. War sofort zurück bei Dad.
»Lenny?«, drang Roux Stimme an mein Ohr.
»Einmal habe ich eine Packung Eier fallen lassen. Sie ist mir aus den Händen gerutscht, und dann … « Ich spürte die Hitze unter meinen Fingern, so, als wären meine Finger noch immer … »Er hat meine Hand auf die Herdplatte gedrückt, bis die Haut sich gelöst hat. Es. Tat. So. Weh.«
Die Haut hatte sich gelöst. Ich hatte noch immer eine Narbe davon. Unten, an meiner Handinnenfläche.
Nathans Arm legte sich um meine Schulter. Ich sackte gegen ihn. Zusammen mit Roux bugsierten sie mich zu einem Küchenstuhl. Meine Beine zitterten. Alles zitterte.
»Wie alt warst du damals?«
»Fast fünf.« Ich schluckte. »Es, es war der Tag vor meinem Geburtstag. Robin wollte backen. Das hat sie immer getan. Jedes Jahr eine andere Torte. »Aber als ich fünf wurde, gab es keine Torte, weil Rob … Sie hat mit dem Besen nach ihm geschlagen, bis er mich losgelassen hat. Und da ist er ausgerastet und hat ihr den Arm gebrochen. Sie konnte nicht mehr weiterbacken.« Ich wischte die Tränen von meinem Gesicht. »Wisst ihr, was sie gemacht hat? Sie hat Geld aus der Spardose geklaut, und am nächsten Tag hat sie mir einen Schokoriegel geschenkt. Mit fünf kleinen rosa Kerzen. Ich musste ihn ganz schnell essen, und wir haben die Herzen nicht angezündet. Aber ich weiß noch, dass wir im Dunkeln saßen, weil die Lampe kaputt war, und sie mir versprochen hat, dass irgendwann alles gut wird. Das wir erwachsen werden und weggehen. Ganz. Weit. Weg.«
Ich wusste, dass ich ihm das nicht erzählen sollte. Dass es Robin nicht gefallen würde das ich es tat. Aber ich wollte es. Ich wollte, das er es wusste. Dass er wusste, wie mein Leben ausgesehen hatte. Meins und Robs und … Er war doch mein Bruder.
»Warum hat euch nie jemand da raus geholt?«, fragte Roux nach einer Weile.
»Weil die Menschen wegschauen«, erklärte ich. »Die Lehrer in der Schule wussten es. Die Sozialarbeiter, die ins Haus kamen. Aber Dad hat es immer wieder geschafft, es in den wichtigen Momenten so aussehen zu lassen, als wäre alles ok. Dann hat er uns Schminke gegeben oder uns so geschlagen, dass man es nicht sah. Er hat ständig erklärt, Rob wäre ein Tollpatsch oder wir wären aufeinander losgegangen. Manchmal hat er auch gesagt, Mom wäre krank und würde uns grob anpacken. Meistens hat er dann irgendeine Pillenpackung hochgehalten, die sie intus hatte, und gemeint, sie bekäme schon was dagegen.« Ich zuckte die Schultern. Ronalds Lügen waren dämlich und doch hatten sie funktioniert. Immer. Ich sah Roux in die Augen. »Ich habe oft darüber nachgedacht. Und ich glaube, die Leute wollen wegsehen. Sie wollen das Hässliche und Schlimme nicht sehen. Sie ertragen es nicht. Und deshalb tun sie so, als gäbe es das Veilchen in deinem Gesicht nicht … Manchmal kann ich es ihnen nicht mal verdenken, weißt du. Im letzten Jahr auf der Straße … wir haben so viel Schlimmes gesehen. Aber es war immer besser als zu Hause. Immer.« Manchmal darfst du nicht einschlafen, weil du weißt, dass du nie wieder aufwachen wirst. Die Menschen sterben neben dir. Der Tod ist still und leise. Und kalt.
Plötzlich war ich nicht mehr in diesem warmen Raum. Ich war zurück auf der Straße. Neben dem alten Mann, dessen leere Augen mich anstarrten. Er hatte einfach aufgehört zu atmen. Das Leben war aus ihm verschwunden. Er war gestorben. Still und leise.
Ich begann an dem Verband an meinem Finger zu pulen, um die Bilder zu vertreiben. »Rob hat immer auf mich aufgepasst. Getan, was sie konnte.« Sie hatte mich beschützt. Als Baby hatte sie meine Windeln gewechselt und die Milchfläschen gekocht. Sie hatte mich zu sich ins Bett geholt, damit ich nicht alleine war und an meiner Wiege gesessen. Dabei war sie selbst erst vier, als ich geboren wurde. »Trish und Emmett auch. Wir sind eine Familie. Und ich glaube, deshalb ging es uns immer besser als den meisten. Weil wir zusammenhalten. Ich glaube, ohne die beiden hätten Rob und ich es nicht geschafft.«
Nein, ich wusste es. Nur zusammen waren wir stark.